Lern- und Gehirngerecht Lehren – wie geht das?

Lernprozesse dort anregen, wo sie stattfinden: im Gehirn. Wie geht das? Dieser Artikel soll in aller Kürze Erkenntnisse der Lehr-Lernforschung und der Neurowissenschaften kondensiert zusammenfassen. Dabei ist es nicht immer zu vermeiden, dass Themen etwas verkürzt und vereinfacht dargestellt sind.

Als Einleitung finden Sie 5 Grundprinzipien, die Ihnen eine allgemeine Vorstellung davon geben sollen, wie Lernen funktioniert – und wie eben nicht. Erklärt werden diese Prinzipien an einem bildlichen Vergleich, der Sie auch durch den zweiten Teil führen soll: 7 Konkrete Tipps zur Lehrgestaltung, abgeleitet aus dem, was über gehirngerechtes Lernen bekannt ist.

Das Gehirn ist, vereinfacht gesagt, eine Denkmaschine. Es ist dazu gebaut, aktiv Informationen durch Denkprozesse zu verarbeiten. Man kann das Gehirn darauf trainieren, diese Datenverarbeitungsprozesse auszuführen und zu verbessern. Dabei funktioniert das Gehirn mit seinen unterschiedlichen Gehirnregionen, die aus Neuronen (Nervenzellen) bestehen ganz ähnlich wie der Körper mit seinen Muskelpartien und Muskeln.

Abbildung 1: Das Gehirn ist keine Festplatte
Abbildung 1: Das Gehirn ist keine Festplatte
  1. Muskelgruppen und Gehirnregionen
    So wie bestimmte Muskelgruppen für bestimmte Bewegungen zuständig sind, so sind bestimmte Gehirnregionen für bestimmte Prozesse zuständig. Es gilt: Sie trainieren in erster Linie die Muskelgruppen bzw. Gehirnregionen, die Sie auch benutzen. Oder auf die Lehre bezogen: Studierende, die jemandem dabei zusehen, eine Mathegleichung zu lösen, trainieren in erster Linie die Gehirnregionen, die man dazu braucht, um zuzusehen; nur sekundär werden die Regionen trainiert, die für die Lösung von Aufgaben benötigt werden.
  2. Zusammenspiel von Muskeln oder Gehirnregionen
    So wie bestimmte Bewegungsabläufe das Zusammenspiel aus verschiedenen Muskelgruppen erfordern, so benötigen bestimmte Denkprozesse auch das Zusammenspiel verschiedener Gehirnregionen. Sie können Muskelgruppen bzw. Gehirnregionen durchaus einzeln trainieren – das hilft in der Vorbereitung. Das Zusammenspiel der Muskelgruppen oder Gehirnregionen muss jedoch gesondert trainiert werden. Oder auf die Lehre übertragen: Es ist sinnvoll, zunächst separate Teilkompetenzen mit Studierenden zu trainieren, z. B. Literaturrecherche, Zitieren, Aufbau von Hausarbeiten und zusätzlich noch fachlich-inhaltliche Kompetenzen. Die Erwartung, dass die Studierenden automatisch in der Lage sind, alle Kompetenzbereiche zu integrieren und selbstständig eine perfekte Hausarbeit zu schreiben, ist jedoch unangemessen. Diese Integration verschiedener Teilkompetenzen fällt leichter, wenn die Teilkompetenzen vorhanden sind, muss aber noch geübt werden.
  3. Use it or loose it!
    Muskeln muss man durch regelmäßiges Training aufbauen und aufrechterhalten. Wenn man eine Weile nicht trainiert bilden sich die Muskeln zurück. Ähnlich ist es mit dem Gehirn: Neuronale Verbindungen, die man nicht nutzt, werden schwächer. Regelmäßiges Training bestimmter Kompetenzen ist deswegen unerlässlich. Ebenso würde man im Fitnessstudio nicht eine Übung einmal durchführen und dann annehmen, dass die benutzte Muskelgruppe nun für alle Zeit trainiert ist. Auf die Lehre übertragen gilt im Hörsaal das gleiche: Einmal erklärt (egal, wie gut es erklärt wurde), bedeutet noch nicht, dass es nun für immer gelernt ist.
  4. Spezialisten oder Allrounder
    Es gibt sportliche Allrounder, die in vielen Disziplinen gut sind, gleichzeitig aber in keiner Disziplin an die Weltspitze heranreichen. Auf der anderen Seite gibt es Sportler*innen, die in einer Disziplin auf die Spitzenplätze kommen, jedoch in anderen Disziplinen keine nennenswerten Leistungen erzielen. Das hängt davon ab, ob nur gezielt bestimmte Muskeln, ganze Muskelgruppen oder Bewegungsabläufe trainiert werden, während andere vernachlässigt werden, oder ob stattdessen die Trainingszeit für ein breiter angelegtes Training verwendet wird. Auf die Lehre übertragen: Wollen Sie Spezialisten oder Allrounder ausbilden? Oder soll die Lehre so angelegt sein, dass beides möglich ist? Bedenken Sie aber: von allen Studierenden in allen Bereichen Exzellenz zu erwarten ist eine Erwartung, die automatisch enttäuscht werden muss.
  5. Training erfolgt aktiv, nicht passiv
    Wenn man seine Muskeln trainieren will, kann man sich eine*n Fitnesstrainer*in suchen, ein Fitnessvideo kaufen oder sich bei Onlinekursen anmelden. Dies ist wichtig, da es zum einen motivieren kann, zum anderen muss man sich nicht selbst erarbeiten, wie man am besten trainiert. Allerdings: Der/dem Trainer*in bei Fitnessübungen zusehen und die nochsovielte Wiederholung des Fitnessvideos werden alleine nicht dazu führen, dass man selbst fit wird. Dazu ist aktives Training notwendig. Ähnlich beim Gehirn: anderen beim Denken zusehen kann ein Ausgangspunkt sein, jedoch trainiert es nicht die Fähigkeit, selbst zu denken.
    Kein*e Fitnesstrainer*in käme auf die Idee, 90 Minuten lang eine Übung nach der anderen zu erklären und dann die Teilnehmenden nach Hause zu schicken, um dort die Übungen zu machen. Sie zeigen eine Übung und fordern dann die Teilnehmenden auf, direkt mitzumachen, bevor sie die Erklärung vergessen haben. Zudem können so direkt Fehler entdeckt und korrigiert werden.
    Auf Lehre bezogen: Auch hier sollte die Präsenzzeit mehr zum gemeinsamen Denken genutzt werden, weniger zum „Vor“denken und passiven Beobachten.

Was das Gehirn nicht ist

Das Gehirn ist KEIN Wissensspeicher. Zwar sind bis heute eigentlich keine Kapazitätsgrenzen des menschlichen Gedächtnisses bekannt. Aber: die Funktionsweise des Gedächtnisses entspricht nicht der einer Festplatte, auf der Daten losgelöst voneinander abgelegt und wieder abgerufen werden. Wissen wird immer in bestehende Wissensstrukturen, in sogenannte „semantische Netzwerke“ eingebunden. Auch der Abruf des Wissens nutzt dabei die Strukturen, in die es eingebettet wurde.

Somit erschafft das Gedächtnis jedes Mal eine Information neu auf Grundlage der Vernetzung und Verknüpfungen verschiedener Gehirnregionen untereinander. Einfacher gesagt: Erinnern ist ein aktiver Denkprozess. Erinnern kann und muss somit geübt und trainiert werden.

Wenn Sie nun wissen möchten, wie Sie ihre Studierenden optimal dabei unterstützen, ihr Gehirn adäquat weiterzuentwickeln, erhalten Sie hier 7 Gestaltungstipps. Diese Tipps sollten Sie unbedingt beachten, wenn Sie möchten, dass die Studierenden größtmögliche Lernerfolge erzielen. Ein beliebtes Gegenargument ist: „Das ist ja alles schön und gut, aber Vieles davon kostet wertvolle Unterrichtszeit. Diese Zeit benötige ich aber, um die Stoffmenge zu bewältigen.“

Lassen Sie mich darauf folgendes erwidern: Ziel der Lehrveranstaltung ist nicht, dass SIE möglichst viel Stoff bewältigen (den Sie im Normalfall ja bereits beherrschen). Ziel ist, dass möglichst viel davon bei den Studierenden ankommt.

Bleiben wir bei unserem Vergleich: Nehmen wir an, ein*e gute*r Fitnesstrainer*in könnte in einem 90 Minuten-Workout problemlos 90 verschiedene Übungen vorstellen – eine pro Minute. Viel Stoff. Effizient ist das jedoch nicht, denn für wirksames Training sind Pausen zwischen den Übungen notwendig. Damit reduziert sich die „Stoffmenge“ auf 45 Übungen, wenn auf eine Minute Übung je eine Minute Pause erfolgen soll. Die Menge ist immer noch groß – die Effizienz aber immer noch eher gering, denn empfohlen werden eher drei Wiederholungen der gleichen Übung, um den besten Trainingseffekt zu erzielen. Somit bleiben noch 15 Übungen übrig. Die Stoffmenge scheint nun sehr reduziert. Jedoch wird so ein langfristiger Trainingseffekt erzielt, der größer ist, als der ursprüngliche. Allerdings haben wir bislang noch gar nicht beachtet, dass die Teilnehmenden immer noch nur zusehen…

Zurück zur Lehre: Der Vergleich hat natürlich Grenzen. „Denkübungen“ können und sollen durchaus länger gehen als eine Minute. Jedoch gilt auch für das Gehirn: 90 Minuten lang ohne Pause neue Informationen aufnehmen, das ist zu viel. Auch hier helfen Pausen bei der Verarbeitung. Und auch hier gilt: anderen beim Denken zusehen und zuhören alleine hilft wenig. Zwischendrin selbst die „Denkübungen“ mitzumachen, hilft mehr.

Sie, also die oder der Lehrende, schaffen weniger Stoff. Richtig. Aber das Training des Denkens bei den Studierenden wird deutlich effizienter sein.

Hier nun die Tipps, wie Sie den Trainingsplan gestalten. Ebenso erhalten Sie Hinweise auf didaktische Methoden und Hinweise für weitere Details zu den Methoden.

Kein*e Sportler*in würde ein Traning beginnen, ohne die Muskeln aufzuwärmen. Das beugt zum einen Verletzungen vor, zum anderen werden Muskeln durch gezielte Aufwärmübungen leistungsfähiger. Gilt das auch für das Gehirn? Ja.

Natürlich holt man sich keine Neuronenzerrung oder einen Synapsenriss, wenn man sich nicht aufwärmt. Es kann stattdessen ein anderer Schaden auftreten. Sie erinnern sich: neues Wissen fügt sich in bestehende Wissensstrukturen ein. Oft ist dieses Vorwissen in Lehrveranstaltungen dringend notwendig, um dem Inhalt zu folgen. In welchem theoretischen Kontext bewegt man sich aktuell, was sind die zentralen Fachbegriffe, wie sind sie voneinander abzugrenzen, etc. Vieles davon ist neu für die Studierenden. Bis zur nächsten Sitzung ist viel des neuen Wissens nicht mehr unbedingt präsent. Starten Sie in der Lehre aber von diesem Ausgangspunkt, kann es passieren, dass Sie viele Studierende ziemlich schnell verlieren. So bleibt in der Sitzung wenig Neues hängen, in der nächsten Sitzung wird es noch schwieriger zu folgen. Erlauben Sie den Studierenden (die häufig auch gerade aus einer völlig anderen thematischen Veranstaltung kommen) zu Beginn, wieder in das Thema zu kommen. Ihr Gewinn: Sie verlieren weniger Studierende (Gasser, 2010, S. 58).

Weiterhin erhöht es die Leistungsfähigkeit, neuronale Wissensknoten zu aktivieren. Je mehr angrenzendes Wissen bereits aktiv ist, desto schneller können Studierende auf Wissen zugreifen; Neues findet schneller Zugang zum bestehenden Wissen. Dabei kann sowohl fachlich-inhaltliches Wissen (z. B. Themen der letzten Sitzung) genutzt werden, als auch Anknüpfung an Vorwissen, Alltagswissen oder Praxisfelder. Dieses Phänomen wird als „Priming“ bezeichnet (Tulving & Schacter, 1990).

Wichtig ist, dass die Aktivierung des Wissens aktiv von Seiten der Studierenden erfolgt. Sie als Lehrperson wissen, was in der letzten Sitzung passiert ist. Erinnern bei den Studierenden trainieren Sie aber am besten, indem Sie erinnern lassen. Also: die Studierenden wiederholen, nicht Sie.

Geeignete Methoden: Glückstopf, ABC, Scrabble, Quiz

In jeder Sekunde stürmen unendlich viele Informationen auf uns ein – so viele, dass wir nicht alle davon verarbeiten können. Zu den Informationen von außen kommen auch noch Informationen von innen – also alles, was uns gerade beschäftigt, worüber wir nachdenken, was uns aufregt, glücklich macht usw. Wir können allerdings nicht über alles gleichzeitig nachdenken. Womit wir uns beschäftigen, das entscheidet unsere Aufmerksamkeit: sie filtert, welche Informationen von außen ins System gelassen werden und mit welchen Gedanken und Gefühlen wir uns aktiv auseinander setzen (Broadbent, 1967).

Sie und Ihre Lehrinhalte stehen also in Konkurrenz zu anderen Informationen, die um Aufmerksamkeit ringen. Hinzu kommt natürlich, dass andere Faktoren die aktuell mögliche Aufmerksamkeitsleistung beeinträchtigen können: Müdigkeit, vorher besuchte Veranstaltungen, persönliche Probleme. Dessen sollten Sie sich bewusst sein – auch wenn Sie wenig Einfluss darauf haben.

Die Aufmerksamkeit richtet sich gerne auf Themen, die interessant sind, die neugierig machen, die offene Fragen beantworten, die eine persönliche Relevanz haben. Stellen Sie sich also immer die Frage: „Warum sollten meine Studierenden das, was ich berichte, interessant finden?“ Pauschal könnte man sagen: „Weil sie das Fach XY studieren und es somit interessant finden sollten.“ Das ist zwar eine wünschenswerte Utopie, hilft als frommer Wunsch in der Praxis aber nicht weiter. Fragen Sie sich also: was ist der Mehrwert? Welches Problem kann jemand, der XY studiert mithilfe der Theorie oder der Formel AB lösen? Wo finde ich im Alltag Beispiele und Anwendungen? Welche spannende Geschichte steckt hinter der Erkenntnis? Ihnen fällt zu alldem nichts ein? Dann können Sie davon ausgehen, dass ihren Studenten erst recht nichts dazu einfällt.

Es gibt zudem noch pragmatischere Tipps, wie sie die Aufmerksamkeit bei Ihren Studierenden aufrechterhalten können:

  • Geben Sie eine klare Struktur vor, die dauerhaft sichtbar ist
    Zeitliche und inhaltliche Gliederungen helfen, sich zu orientieren. Selbst, wenn man kurz „den Faden verliert“, findet man schnell wieder Anschluss, wenn es dauerhaft sichtbare Orientierungshilfen gibt.
  • Machen Sie Denkpausen
    Nach 15 – 20 Minuten lässt die Aufmerksamkeit im Durchschnitt in einem Lehrvortrag nach. Die Zeit kann variieren nach Interesse und Motivation, nach Müdigkeit und vorangegangenem Input. Um die Aufmerksamkeit wiederherzustellen, können Sie kurze Pausen einbauen, in denen die Studierenden die Themen verarbeiten können. Mehr dazu unter „Arbeitsgedächtnis“
  • Führen Sie Methodenwechsel durch
    Der Wechsel einer Lehrmethode gibt dem Gehirn das Signal, das etwas Neues passiert. Das sorgt erst einmal für Aufmerksamkeit. Aber Achtung: die folgende Methode sollte nicht Selbstzweck sein, sondern den Lernzielen und den Umständen angemessen. Sonst geht die Aufmerksamkeit schnell wieder verloren.
  • Lassen Sie Studierende aktiv arbeiten
    Wer sich selbst aktiv mit einer Aufgabe beschäftigt, muss seine Aufmerksamkeit darauf richten. Wer anderen nur zuhört, kann abschweifen. Die beste Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Studierenden auf ein Thema zu richten ist also, ihnen aktive Arbeitsaufträge zu geben anstatt zu dozieren (Schneider & Mustafic, 2015, S.21).

Das Arbeitsgedächtnis wird auch als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet. In der Alltagssprache wird der Begriff häufig nicht ganz korrekt verwendet, denn die Verweildauer von Informationen im Kurzzeitgedächtnis wird überschätzt. Eine Information, die man „nur“ bis zum nächsten Tag behält, um sie dann wieder zu vergessen, befindet sich bereits im Langzeitgedächtnis. Im Kurzzeitgedächtnis sind Informationen nur ca. zwei bis drei Minuten vorhanden, sofern man sich nicht länger mit ihnen beschäftigt (Baddeley, 2002, S. 29).

Der Begriff „Arbeitsgedächtnis“ beschreibt das System besser. Ähnlich wie der Arbeitsspeicher beim Computer (an dieser Stelle funktioniert die EDV-Metapher) hält das Arbeitsgedächtnis sämtliche Informationen bereit, mit denen man sich aktuell befasst und über die man nachdenkt. Dies können sowohl neue Informationen von außen sein, als auch Informationen, die man aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen hat. Sie werden dort so lange aufrechterhalten, wie man sich mit ihnen auseinander setzt. Dabei ist die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sehr begrenzt.

„5 +/- 2“ Informationseinheiten haben im Arbeitsgedächtnis Platz (lange ging die Forschung von 7+/- 2 Einheiten aus, inzwischen wurde dies auf 5 +/- 2 korrigiert; Rouder et al., 2008). Das klingt nach erschreckend wenig. Allerdings kann eine Informationseinheit wiederum sehr groß sein, denn unser Gehirn ist in der Lage, Informationen zu sogenannten „Chunks“ zu verbinden. An einem Beispiel:

Hört ein Kind zum ersten Mal den Begriff „Säugetier“, so kann es damit noch nicht viel anfangen. Der Begriff selbst belegt eine Speichereinheit. Nun erklärt man dem Kind, dass „Säugetier“ ein Überbegriff für verschiedene Tiere ist (zweiter Speicherplatz belegt), zum Beispiel ist ein Hund ein Säugetier (dritter Speicherplatz). Säugetiere haben oft Fell (vierter Speicherplatz) und legen keine Eier (fünfter Speicherplatz). Diese Informationen muss das Kind nun erst verarbeiten, bevor es weitere Informationen aufnehmen kann. Hört ein Erwachsener hingegen von einem ihm bis dahin unbekannten Säugetier, zum Beispiel dem „Ziesel“, so kann er auf viele Eigenschaften dieses Tieres schließen (Fell, lebendgebärend, Säugen der Jungtiere, Lunge, etc.), ohne damit die Kapazität seines Arbeitsgedächtnisses zu belasten. Das Wissen über Säugetiere ist so eng miteinander verknüpft, dass es einen Chunk (auf Deutsch: Klumpen) bildet.

Zurück zur Lehre: Insbesondere Studierende der ersten Semester haben oft noch wenig Fachwissen in Chunks verbunden, da viele Begriffe für sie neu sind. Die einmalige Konfrontation in einer Lehrveranstaltung reicht dazu bei weitem nicht. Regelmäßige Wiederholung und vor allem Verwendung im entsprechenden Kontext ist notwendig. Die Lehrenden hingegen haben oft schon viel mehr Fachwissen zu Chunks verbunden. Deswegen verlieren sie manchmal das Gefühl dafür, dass das Arbeitsgedächtnis von Studierenden viel schneller mit neuen Informationen überfüllt ist, als sie erwarten.

Wenn Sie einen Lehrvortrag halten, präsentieren Sie nicht zu große Informationsklumpen auf einmal, wenn Ihre Studierenden noch kein Vorwissen haben. Bieten Sie stattdessen kleine Informationshäppchen an – aber nicht zu viele in zu kurzer Zeit. Stellen Sie Bezüge zu möglichem Vorwissen deutlich heraus. Und berücksichtigen Sie den folgenden Tipp 4.

Auch hier spielt das Arbeitsgedächtnis eine entscheidende Rolle. Für die Lehre ist es wichtig zu wissen, dass neue Informationen nur über das Arbeitsgedächtnis in das Langzeitgedächtnis eingehen können. Dabei landet aber nicht jede Information, die es ins Arbeitsgedächtnis geschafft hat, automatisch auch im Langzeitgedächtnis. Damit dies passiert, muss die Information ausreichend bearbeitet werden. Dieser Prozess benötigt Zeit und aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten. Wenn von außen weiterhin neue Information geliefert wird, muss sich das Arbeitsgedächtnis entscheiden, die neue Information abzublocken oder aber die bereits im Arbeitsgedächtnis befindliche wieder zu vergessen, bevor sie ausreichend verarbeitet war.

Abbildung 2: Der Weg ins Langzeitgedächtnis
Abbildung 2: Der Weg ins Langzeitgedächtnis

Häufig haben Lehrende immer noch die Zielsetzung, möglichst viel Stoff in der knappen Zeit einer Lehrveranstaltung zu vermitteln. Diese konstante und durchgehende Aussendung von Informationen auf Seiten der Lehrenden ohne Zeit, das Gehörte zu verarbeiten und in das Langzeitgedächtnis zu überführen, führt jedoch lediglich dazu, dass das Arbeitsgedächtnis der Studierenden schnell überfüllt ist. Ein großer Teil der Information wird nicht im Langzeitspeicher landen.

Entlasten Sie deswegen das Arbeitsgedächtnis, indem Sie die Informationsdichte verringern und Zeit zur Verarbeitung lassen und die aktive Auseinandersetzung mit den Themen fördern. Zwar werden Sie so weniger Stoff „von sich geben“, bei den Studierenden wird aber mehr ankommen.

Unser Gehirn ist meisterlich darin, Strukturen zu finden und zu entdecken. Salopp könnte man sagen: das Gehirn liebt Strukturen. Strukturen helfen dem Gehirn dabei, Informationen schnell zu verarbeiten, zueinander in Beziehung zu setzen, neue Informationen zu lernen und gelernte Informationen schnell aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen.

Dies birgt Chancen wie Gefahren, denn unser Gehirn neigt auch dazu, sich durchaus unangemessene oder falsche Strukturen aufzubauen und das Wissen in diese einzugliedern. So entstehen zum Beispiel Vorurteile. Aber auch fachliche Fehlüberzeugungen können somit entstehen.

Sie können langzeitliches Lernen dadurch fördern, dass Sie Strukturen aufzeigen. Diese Strukturierung kann sich wohl im Aufbau des Lehrvortrages wiederspiegeln, als auch in verwendeten Materialien. Nutzen Sie Schaubilder, Abbildungen, Tabellen, Skizzen, Kategorisierungen, Cluster, Gegenüberstellungen und andere Möglichkeiten (Schneider & Mustafic, 2015, 15ff, 41).

Gleichzeitig können Sie durch Aufzeigen von angemessenen Strukturen am besten der Bildung von ungeeigneten oder falschen Wissensstrukturen vorbeugen.

Eine andere Möglichkeit ist die, die Abbildung der Wissensstrukturen gemeinsam mit den Studierenden zu entwickeln. So fördern Sie die aktive Auseinandersetzung mit dem Stoff, unterstützen das Langzeitlernen und bekommen zudem einen Einblick in die Wissensstrukturen ihrer Studierenden.

Als konkrete Methoden eignet sich dafür insbesondere der Advance Organizer bzw. die Fachlandkarte. Aber auch die Arbeit mit Moderationskarten oder digitalen Smartboards bietet hier viele Möglichkeiten.

In unserem Gehirn gibt es zahlreiche Gehirnregionen, die für unterschiedliche Prozesse zuständig sind. Es gibt Gehirnareale für sensorische, visuelle, auditive, räumliche, sprachliche, emotionale und viele andere Informationen.

In Lehrveranstaltungen werden häufig Präsentationsmedien wie Powerpoint genutzt, die visuell den gesprochenen Vortrag unterstützen. So sollen unterschiedliche Sinneskanäle genutzt werden, doch dies ist ein Trugschluss

Abbildung 3: Gehirn-Landkarte
Abbildung 3: Gehirn-Landkarte

Denn die meisten Präsentationen enthalten vor allem Text, also sprachliche Informationen. Diese wird vom Gehirn im „Wernicke-Areal“ verarbeitet – genauso wie die akustische Sprachinformation des Vortragenden. Doch das Wernicke-Areal kann nicht beides gleichzeitig erarbeiten. In der Folge können die Studierenden also entweder mitlesen oder zuhören – aber nicht beides.

Wenn Sie tatsächlich mit Präsentationsmedien Ihren Vortrag unterstützen möchten, sollten Sie möglichst auf ausformulierte Sätze verzichten. Verwenden Sie eher Abbildungen, Grafiken und Visualisierungen, die maximal mit Stichpunkten versehen sind. So sprechen Sie gleichzeitig die sprachlichen als auch die visuell-räumlichen Areale des Gehirns und somit tatsächlich verschiedene Sinnesmodalitäten an. Sie ermöglichen somit auch Verknüpfungen im Gehirn zwischen den unterschiedlichen Arealen und somit eine bessere Einbettung des Wissens in das Gesamtnetzwerk. Wenn Sie die Möglichkeit haben, aktivieren Sie bei ihren Studierenden noch mehr Gehirnareale. Dabei geht es nicht nur um sensorische, emotionale und motorische Areale. Auch die Bereiche im frontalen und präfrontalen Kortex, die für höhere kognitive Prozesse, also vereinfacht gesagt für „Nachdenken“ zuständig sind können direkt mit neuen Wissensinhalten verknüpft werden – oder eben auch nicht (Gasser, 2010, S.20; S. 63ff.).

Es gilt die Faustregel: je mehr Gehirnregionen mit einem neuen Wissensinhalt verknüpft werden, desto wahrscheinlicher ist dessen Übertrag ins Langzeitgedächtnis. Ebenso kann auf einen solchen Wissensinhalt schneller und leichter zugegriffen werden.

Dieser Tipp ist eine Ableitung aus den bereits genannten Tipps. Wenn Sie das Vorwissen der Studierenden aktivieren möchten, ist der beste Weg, die Studierenden nach ihrem Vorwissen zu fragen. Um die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, das Arbeitsgedächtnis zu entlasten, den Übertrag in das Langzeitgedächtnis zu fördern, den aktiven Aufbau von Wissensstrukturen zu unterstützen und möglichst viele Gehirnareale bei den Studierenden zu vernetzen, ist der beste Weg, die Studierenden so oft wie möglich in Aktivität zu versetzen (Schneider & Mustafic, 2015, S.21ff).

Sorgen Sie dafür, dass möglichst viele Studierende in Ihrer Veranstaltung möglichst häufig über eine Frage nachdenken, an einem Problem arbeiten und eine motorische und/oder kognitive Handlung ausführen. Dabei ist es nicht damit getan, offene Fragen an das Plenum zu stellen und zu warten, bis die erste Person eine Antwort formuliert. Dies fördert erfahrungsgemäß nur Denkprozesse bei einer Handvoll Studierender, während die übrigen lediglich in Stille verharren, bis die Situation vorüber ist (Pfäffli, 2015, S. 102ff).

Nutzen Sie Methoden, die einen großen Teil der Gruppe aktivieren. In Vorlesungssituationen können das unter anderem Methoden wie das aktive Plenum, Think-Pair-Share, Murmelgruppen, Rapid-Feedback-Systeme, Pro-Contra-Debatten, etc. sein. In anderen Lehrformaten ist die Menge der möglichen aktivierenden Methoden so groß, dass Sie am besten auf online zugängliche Methodenbars wie lehridee.de, lehreladen oder den methodenwuerfel.ch zurückgreifen, oder die Beratungs- und Workshopangebote in der hochschuldidaktischen Einrichtung an Ihrer Universität in Anspruch nehmen können.

Wenn Sie Ihre Lehrveranstaltung planen, versuchen Sie Lernen weniger als Wissensspeicherung als „Denktraining“ anzusehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Sie das Element des Wissens aus der Lehre heraus halten sollen. Aber im Zentrum sollte nicht die reine Menge der Information stehen. Wichtiger ist zum einen die Struktur, die Zusammenhänge untereinander und vor allem die Möglichkeit für die Studierenden, selbst über dieses Wissen, dessen Anwendung und die Zusammenhänge nachzudenken.

Die in diesem Artikel zusammengestellten Tipps geben Ihnen dabei eine grobe Orientierungshilfe für die gehirngerechte Lehre. Für die konkrete Strukturierung oder aktivierende Methodische Gestaltung erhalten Sie an anderer Stelle Hinweise, oder nutzen Sie die Angebote der hochschuldidaktischen Einrichtung an Ihrer Hochschule.

Baddeley, A. (2002). Human Memory. Theory and Practice – revised edition. East Sussex: Psychology Press.

Broadbent, D. E. (1957). A mechanical model for human attention and immediate memory. Psychological review, 64(3), 205.

Gasser, P. (2010). Gehirngerecht lernen. Eine Lernanleitung auf neuropsychologischer Grundlage. Bern: hep-Verlag.

Hebb, D. O. (2005). The organization of behavior: A neuropsychological theory. East Sussex: Psychology Press.

Pfäffli, B. K. (2015). Lehren an Hochschulen. Eine Hochschuldidaktik für den Aufbau von Wissen und Kompetenzen. 2. Auflage. Bern: Haupt.

Rouder, J. N., Morey, R. D., Cowan, N., Zwilling, C. E., Morey, C. C., & Pratte, M. S. (2008). An assessment of fixed-capacity models of visual working memory. Proceedings of the National Academy of Sciences, 105(16), 5975-5979.

Schneider, M. & Mustafic, M. (2015). Gute Hochschullehre: eine evidenzbasierte Orientierungshilfe. Wie man Vorlesungen, Seminare und Projekte effektiv gestaltet. Heidelberg: Springer.

Tulving, E., & Schacter, D. L. (1990). Priming and human memory systems. Science, 247(4940), 301.