Einführung, Begrifflichkeiten und konzeptionelle Grundlagen

Hinter dem „Flipped Classroom“ (auch: Inverted Classroom) steckt ein didaktisches Konzept, in dem sich Studierende eigenständig Lerninhalte aneignen und diese dann in der Präsenzveranstaltung vertiefen und anwenden. Für Lehrende ist die Veranstaltung in Präsenz entsprechend oft wie eine Pralinenschachtel mit allerhand Überraschungen. Lesen Sie unten weiter, was ein Flipped Classroom für Vorzüge hat und wie Sie ihn konzipieren.

Der „Flipped Classroom“ oder auch „Inverted Classroom“ kehrt die Lernaktivitäten in klassischen Präsenzveranstaltungen um: Studierende eignen sich in Selbstlernphasen anhand von Lernmaterialien (meist digital über eine Lernplattform z.B. Moodle) ortsunabhängig und im eigenen Lerntempo Lerninhalte an. Die Lernmaterialien sollten dabei im besten Fall eine reguläre Veranstaltung ersetzen können. Hier können Videos, Texte und Audios einzeln oder gemeinsam eingesetzt werden. Auch in dieser asynchronen Phase ist eine Aktivierung der Studierenden wichtig, zum Beispiel mit Leitfragen und Quizzes. In Präsenzveranstaltungen an der Hochschule erfolgt die Vertiefung der Lerninhalte in interaktiver Form (z.B. durch Diskussionen, Gruppenarbeiten, Anwendung der Lerninhalte).

Video zum Flipped bzw. Inverted Classroom

Das Erklärvideo informiert über Do's und Dont's der Visualisierung von Experimenten im Flipped Classroom.

Mehr Informationen gibt es hier.

Durch die Selbstlernphasen im„Flipped Classroom“ haben Lehrende in der Regel kaum Einblick in Inhalte, die Studierenden schwerfallen. Herausfordernd können daher auch die Lernstandsfragen in der Präsenzzeit sein. Für Lehrende ist die Situation ungewohnt und jede Präsenzveranstaltung kann mit Überraschungen aufwarten.Hier setzt „Just-in-Time Teaching“ (JiTT) an:

  • Um Lehrenden einen Überblick zum Wissensstand der Studierenden vor der nächsten Präsenzveranstaltung zurück zu melden, erhalten die Studierenden zwei bis drei Tage vor der nächsten Präsenzveranstaltung zusätzlich Lernstandsfragen, die online (z.B. Moodle) beantwortet werden.
  • Lehrende haben nun vor dem Beginn der Präsenzveranstaltung die Möglichkeit die Antworten einzusehen. Diese zusätzliche Möglichkeit zur Lernstandsdiagnose erlaubt es ihnen abzuschätzen an welchen Stellen die Studierenden mit den Lerninhalten noch Schwierigkeiten haben und ermöglicht damit der Lehrperson eine entsprechende Vorbereitung.
  • Als Werkzeug für die Erstellung von Lernstandsfragen, eignen sich die Fragentypen, die auf der Lernplattform Moodle an der TU Darmstadt implementiert sind.

Schwachstellen des Frontalunterrichts umgehen

Flipped Classroom und JiTT knüpfen an Schwachstellen des klassischen Frontalunterrichts an. Lesen Sie unten mehr zu den Chancen des Flipped Classroom und JiTT.

Schwachstellen des klassischen Frontalunterrichts

  • In klassischen Vorlesungen rezipieren die Lernenden einen Vortrag der Lehrperson und versuchen dessen Kernaussagen zeitgleich schriftlich festzuhalten. Sie haben selten die Möglichkeit und die Zeit das Vorgetragene zu reflektieren und laufen Gefahr wichtige Aspekte des Vortrags zu verpassen. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses im Gehirn ist begrenzt. Je nach Vorwissen und aktueller Aufmerksamkeit eines Menschen kann mehr oder weniger neuer Inhalt aufgenommen werden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es den meisten Studierenden schwer fällt 90 Minuten ihre Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten und neuen Stoff im Gedächtnis zu speichern. Insbesondere für die Konsolidierung im Langzeitgedächtnis benötigt das Gehirn Zeit zur Verarbeitung des Neuen. Aus diesem Grunde sind klassische Vorlesungen ohne Möglichkeiten zur eigenständigen Verarbeitung keine sehr effektive Lehrform (vgl. Stoffreduktion).
  • Zum Lernen sind die Anwendung und das Üben mit dem neuen Wissen wichtig. In klassischen Veranstaltungen erfolgt dies individuell in Selbstlernphasen. Dies birgt den Nachteil, dass Verständnisprobleme oftmals nicht alleine gelöst werden können. (vgl. Inverted Classroom).

Möglichkeiten des Flipped Classroom und JiTT

  • In klassischen Präsenzveranstaltungen ist die Lehrperson Vortragende/r und die Studierenden rezipieren. Daraus folgt ein starkes Hierarchiegefälle. In Flipped Classroom und JiTT-Veranstaltungsformaten sind Studierende aktiv und Lehrende sind Lernbegleiter*innen. Die flacheren Hierarchien wirken in der Präsenzveranstaltung diskussionsfördernd.
  • Auf Grund der Rollenverteilung in klassischen Vorlesungen, in denen die Lehrperson als reiner Inhaltsvermittler fungiert, bekommen die Lehrenden in der Regel wenig bis kein informelles Feedback zur Veranstaltung.
  • In herkömmlichen Präsenzveranstaltungen vermitteln die Lehrenden jedes Semester die Grundlagen in einer Lehrveranstaltung. Dies ist für Lehrende in der Regel eher langweilig. Entsprechend des JiTT und Flipped-Classroom Konzepts eignen sich Studierende diese Grundlagen bspw. auf Basis von Lehrvideos oder Texten selbst an. Die Lehrenden werden dann in der Präsenzveranstaltung für die Vertiefung und Anwendung der Inhalte gefordert.
  • Jedes Semester die gleiche Vorlesung zu halten, ist wenig ökonomisch. Um den Stoff zu vermitteln können Lehrvideos oder Vorlesungsaufzeichnung, in kleine Einheiten aufgeteilt, besser geeignet sein. Noch etwas aufbereitet, werden sie Studierenden zum Lernen zur Verfügung gestellt.
  • Die Lehrenden wissen in herkömmlichen Veranstaltungen häufig nicht, welche Lerninhalte den Studierenden Schwierigkeiten bereiten. An dieser Stelle bietet das JiTT eine gute Möglichkeit zur Lernstandsdiagnose für die Lehrperson.

Video zur Gestaltung von Lehrvideos

Dr. Annette Glathe von der TU Darmstadt und andere stellen Erkenntnisse aus Psychologie und Lehr-Lernforschung für Hochschuldidaktik und Hochschullehre vor.

Externer Inhalt auf YouTube

Lernstandsfragen-Checkliste für die Konzeption der Lehrveranstaltung

  • Für welche Inhalte benötigen die Studierenden die Unterstützung durch den Lehrenden?
  • Für welche Inhalte brauchen die Studierenden Austausch mit einer Lerngruppe?
  • Welche Inhalte eignen sich für die Auslagerung aus der Präsenz und damit zur individuellen Aneignung in Selbstlernphasen?
  • Wie können diese Inhalte didaktisch sinnvoll (evtl. technologiegestützt) aufbereitet werden (vgl. Sams, S. 19)?
  • Welche Lerninhalte sind für die Klausur relevant bzw. welche Kompetenzen sollen die Studierenden im Rahmen der Lehrveranstaltung erwerben und welche Verständnisfragen ergeben sich daraus für das Ende der Selbstlernphasen?

Selbstlernphasen passend konstruieren

Oft stellt die freie Zeiteinteilung bei Selbstlernphasen eine Herausforderung dar. In der Folge wird das Lernmaterial, wenn überhaupt, häufig direkt nach der einen oder vor der nächsten Präsenzveranstaltung durchgearbeitet (Wiemeyer & Stroß, 2006). Entsprechend ist der Workload ungleichmäßig verteilt. Hinzu kommt, dass die für den Verständnisprozess vertiefende Auseinandersetzung mit den Inhalten oft ausgelassen wird. Tauchen beim Durcharbeiten Verständnisprobleme auf, fühlen sich Studierende in Selbstlernphasen zudem oft allein gelassen. Deshalb liegt es an den Lehrenden die Lernenden in den Selbstlernphasen zu unterstützen. Hilfreich für die Studierenden ist:

  • Eine gute inhaltliche Strukturierung mit Angaben, bis wann welche Inhalte bearbeitet sein sollen.
  • Damit Studierende in den Selbstlernphasen nicht alleine sind, sollte eine Lernplattform eingesetzt werden, über die z.B. Kommunikation mit dem Lehrpersonal oder über Foren mit den Kommilitonen möglich ist.
  • Für die inhaltliche Vertiefung der Lerninhalte und die Selbstkontrolle der Studierenden sind neben Ergänzungsmaterialien auch Fragen, Aufgaben, Quizzes und Lückentexte empfehlenswert.
  • Der internetbasierte Einsatz von Fragen (Quiz, Lückentexte, Aufgaben) in den Selbstlernphasen, hilft den Studierenden die Lernzeit außerhalb der Präsenzveranstaltung zu strukturieren und damit effektiv zu nutzen.
  • Auf Grund der Antworten auf die Fragen, wissen die Lehrenden bereits mit welchen Inhalten die Studierenden noch Schwierigkeiten haben und können ihre Lehre auf die Studierenden abstimmen.

Präsenzphasen stimmig erarbeiten

Lehrenden kommt bei den Präsenzphasen eine andere Rolle als bisher zu. Lehrpersonen sind mehr als reine „Wissensvermittler*innen“. Sie begleiten und moderieren die Präsenzveranstaltung, während die Studierenden eher in eine aktive Rolle schlüpfen. Deshalb ist wichtig:

  • Auch in der Präsenz das Flipped-Classroom Konzept konsequent umgesetzt wird. Inhalten, die in der Selbstlernphase von den Studierenden erarbeitet werden sollten, dürfen in der Präsenzveranstaltung nicht wiederholt werden, damit die Studierenden nicht lernen, dass sie sich den Vorbereitungsaufwand sparen können (vgl. Spannnagel).
  • Außerdem ist es wichtig die Studierenden aktiv in die Präsenz einzubinden. Hierzu gibt es einige Hinweise bei Spannnagel (vgl. Aktives Plenum)
  • Die Lehrperson sollte die Ergebnisse der Verständnisfragen aus der Selbstlernphase in die Präsenz einfließen lassen, um ggf. Input zu noch vorhandenen Wissenslücken vorbereiten zu können. In diesem Punkt empfinden Studierende in einer Erhebung von Tao, Liu, Mottok, Hackenberg und Hagel (2015) das JiTT im Hinblick auf den Austausch sehr förderlich wirkt. Außerdem wird die Kontaktzeit zwischen Lehrperson und Studierenden von allen Beteiligten als effektiv eingeschätzt.

Weitere Anmerkungen

  • Das Veranstaltungsformat eignet sich auch für größere Gruppen
  • Für die Präsenzveranstaltung gibt es keine besonderen Anforderungen an die Räumlichkeiten
  • Zur Beantwortung der Lernstandsfragen in der Selbstlernphase durch die Studierenden werden 2-3 Tage empfohlen (vgl. DiZ)

Kennen Sie die Chancen und Herausforderungen?

Die Konzepte des Flipped Classroom und JiTT bieten Chancen und können gleichwohl herausfordernd sein. Mit den Anregungen unten, sind Sie aber gut gewappnet.

Vorteile der Kombination von „Flipped Classroom“ und JiTT sind

  • Die Aneignung der Lerninhalte erfolgt individualisiert und eigenverantwortlich. Studierende haben die Möglichkeit die Lerninhalte (z.B. Videos) im eigenen Tempo und wiederholt durchzuarbeiten. Dabei können entsprechende Wissenslücken mit Zusatzmaterial geschlossen werden. Dieser Prozess erfolgt komplett orts- und zeitunabhängig (vgl. Pengfei & Mingxuan, 2015).
  • Lehrende erfahren frühzeitig von den Schwierigkeiten ihrer Studierenden mit den Lerninhalten und können auf diese reagieren (vgl. Jonsson, 2015).
  • Die Präsenzveranstaltungen können komplett Lernerzentriert durchgeführt werden (vgl. Bötcher, A., Kämper & Thurner, 2015).
  • Die Unterrichtsmethode ist langfristig ökonomisch, da das Material für die Inhaltsvermittlung in den Selbstlernphasen wiederverwendet werden kann. Auch die Nutzung für thematisch nahe Veranstaltungen ist möglich.
  • Durch die transparente Darstellung von Lerninhalten (z.B. Videos) können Fehler im Lernmaterial schnell erkannt und korrigiert werden.
  • Das Erstellen der Lernstandsfragen stellt zunächst einen großen Aufwand dar, sie können jedoch für eine abschließende Klausur und den Aufbau eines systematischen Fragenpools verwendet werden.

Nachteile können sein

  • Der hohe Aufwand für die Erstellung von Material (E-Learning)
  • Zeitaufwand zur Auswertung der Lernstandsfragen kurz vor der Präsenzveranstaltung.
  • In den Selbstlernphasen können die Studierenden die Lehrperson nicht direkt fragen.

Folgende Stolpersteine sollten beachtet werden

  • Es gibt immer Studierende, die sich nicht auf die Präsenzveranstaltungen vorbereiten. Der Fokus der Lehrperson soll bei den Studierenden liegen, die sich entsprechend des Konzeptes auf die Präsenzveranstaltung vorbereitet haben.
  • Das Konzept des Flipped Classroom scheint eher für vertiefende als einführende Veranstaltungen geeignet (vgl. Bredow et al., 2021).

DiZ-Zentrum für Hochschuldidaktik

Bredow, C. A., Roehling, P. V., Knorp, A. J., & Sweet, A. M. (2021). To Flip or Not to Flip? A Meta-Analysis of the Efficacy of Flipped Learning in Higher Education. In Review of Educational Research. American Educational Research Association (AERA), Vol. 91, Issue 6, pp. 878–918

Jonsson, H. (2015). Using Flipped Classroom, Peer Discussion, and Just-in-time Teaching to Increase Learning in a Programming Course. 2015 IEEE Frontiers in Education Conference (FIE), vol. 00, no., pp. 1-9

Pengfei, G. & Mingxuan, Ch. (2015). Flipped classroom: Teaching experience from practice. 2015 International Conference of Educational Innovation through Technology, pp. 155-159

Sams, A. (2012). Der „Flipped“ Classroom. In: J. Handke & A. Sperl (Hrsg.), Das Inverted Classroom Model. Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, S. 13–22

Tao, Y., Liu, G., Mottok, J., Hackenberg, R. & Hagel, G. (2015). Just-in-Time-Teaching Experience in a Software Design Pattern Course. 2015 IEEE Global Engineering Education Conference (EDUCON), pp 915-919

Wiemeyer, J. & Stroß, M. (2006). Evaluation von eLearningangeboten – Grundlagen und Anwendungsbeispiel. In V. Scheid (Hrsg.). Sport und Bewegung vermitteln. Czwalina: Hamburg, S. 150-153