Tipps für die Praxis
16.05.23
„Less is more“ wie Mies van der Rohe es formulierte – oder die Konzentration auf das Wesentliche nach dem Prinzip des Ockhamschen Rasiermessers – bezieht sich sowohl auf die Menge des Stoffes, der unterrichtet wird, als auch auf die Komplexität, in welcher der Stoff präsentiert wird. Die folgenden Abschnitte stellen einige Wege zur Stoffauswahl und Vereinfachung vor. Es geht hierbei sowohl um qualitative als auch um quantitative Reduktion. Diese Unterscheidung geht zurück auf Grüner (1967), vgl. auch Stary (2012). Die Variablen, die beeinflussen, wieviel und wie reduziert werden sollte, sind:
- das Vorwissen der Studierenden
- die zur Verfügung stehende Zeit
- das Lehr-/Lernziel
- institutionelle Vorgaben (Gibt es inhaltliche Vorgaben? Welche Leistungsnachweise sind wie zu erbringen?).
Welche konkreten Maßnahmen gibt es, um die Stoffmenge zu reduzieren?
- In einem ersten Schritt müssen die Lehr-/Lernziele definiert werden, es muss Klarheit über die Zielgruppe bestehen, und die zur Verfügung stehende Zeit muss ins Auge gefasst werden.
- Die nächste Variable stellt die Prüfungsform dar. Die Frage, wie der Inhalt der Veranstaltung abgeprüft werden soll, hat entscheidenden Einfluss darauf, wieviel und auf welche Weise unterrichtet wird. Geht es vor allem um Wissensziele, die mit Wissensfragen in einer Klausur abgefragt werden können, dann darf in der Veranstaltung Wissen präsentiert werden. Sollen die Studierenden aber bestimmte Fähigkeiten erlangen, so müssen diese auch zumindest durch Anwendungs- und Transferaufgaben überprüft werden. In der Veranstaltung muss den Studierenden dann aber auch die Möglichkeit gegeben werden, diese Anwendung und den Transfer zu erlernen und zu üben.
- Wenn so die Rahmenbedingungen geklärt und abgestimmt sind, geht es an die eigentliche Reduktion des Stoffes.
Diese beinhaltet im Kern wiederum drei Schritte: Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen, den Zusammenhang zwischen den wesentlichen Inhalten klar zu machen und schließlich die Stoffauswahl im Kontext des Gesamtthemas zu verorten. Dieser Dreischritt geht im Kern auf Döring (1992) und Lehner & Ziep (1993) zurück.
In der beschriebenen Planungsphase muss die Entscheidung fallen, ob exemplarisches Lernen an einem Teilgebiet stattfinden kann oder ob diverse Teilgebiete repräsentiert sein sollen, aus denen dann aber nicht alle, sondern jeweils wieder nur die wichtigsten Aspekte behandelt werden können.
Abbildungen (1a) und (1b) veranschaulichen diese beiden Varianten. Beim exemplarischen Lernen würde aus dem Quader des Lerngebiets nur ein kleiner Teil (im Foto rot markiert) behandelt werden, dieser aber tiefgründig. Wenn diverse Teilaspekte anzusprechen wären (wie im Abbildung (1b) die rot markierten Äste in diversen Quadraten des Lernquaders), würden die thematischen Untergebiete, in denen die jeweiligen Aspekte verortet sind, vermutlich weniger tiefgründig bearbeitet.
Sofern diese Entscheidung nicht intuitiv klar ist, kann das Didaktische Raster (Lehner 2012), auch „didaktisches Strukturgitter“ genannt, das auf Blankertz (1974) zurückgeht, helfen. Hierbei geht es darum, Wissensdimensionen mit Leistungskategorien zu korrelieren. Dies funktioniert beispielsweise mit einer Matrix, welche die Stufen der Bloomschen Lernzieltaxonomie (reproduzieren, verstehen/anwenden, reflektieren/kritisieren können) mit den Wissensdimensionen Fakten, Konzepte und Prozeduren bzw. dem Verfügungs- und Orientierungswissen (eine Unterscheidung des Philosophen Jürgen Mittelstrass) in Zusammenhang bringt, vgl. das Beispiel in Tabelle (1).
Die Idee des didaktischen Strukturgitters oder Rasters genießt keinen uneingeschränkten Beifall in der Literatur (vgl. für eine kritische Position Sander 1988), vor allem weil die Kategorien in der Matrix nicht immer gleich sinnvoll sind. Wenn man sie jedoch individuell anpasst, ist diese Methode hilfreich, weil eine Analyse im Stil eines solchen morphologischen Kastens die Lehrenden zu inhaltlicher Klarheit und Systematik zwingt. Was wiederum entscheidend bei der Stoffauswahl hilft und somit auch die klare Strukturierung des ausgewählten und behandelten Stoffes fördert.
Sollen diverse Untergebiete des Lerngebiets behandelt werden (Abb. 1b), hilft Lehners (2012) Metaphorik der Blumenstraußtechnik: Was sind besonders aussagekräftige und typische Fälle/Konstruktionen/…, an denen man viel über das Thema lernen kann? Ergeben diese zusammen einen repräsentativen „Blumenstrauß“ (in Hinblick auf die Metapher des Lerngebiets als Blumenwiese)?
Müssen diverse Bereiche abgedeckt werden, hilft Lehners (2012) Strategie des Siebens. In der didaktischen Auswahl fungiert die Zeit als ein Sieb. Je weniger Zeit für die Lehre zur Verfügung steht, desto grober ist das Sieb, d.h. desto weniger Inhalte bleiben im Sieb hängen. Prinzipiell können entweder nach und nach mehr Inhalte eliminiert werden; leichter scheint jedoch der Weg, zunächst radikal zu reduzieren und dann schrittweise wieder anzureichern – je nachdem, wieviel Zeit zur Verfügung steht.
Stellen Sie sich vor, Ihr Veranstaltungsthema ist „Bauhaus Architektur“. Welche Inhalte würden Sie „bringen“, wenn Sie bloß fünf Minuten zur Verfügung hätten? Wenn Sie im Anschluss zwei weitere Stunden lehrten, wodurch würden Sie die ersten Inhalte ergänzen und vertiefen? Denken Sie dabei an die Lehr-Lernziele. Im nächsten Schritt ergänzen Sie um Inhalte, die in ein ganzes Semester passen würden. Dann haben Sie in etwa die Stoffmenge für ein Semester konzipiert.
Eine weitere Strategie, den Stoff zu reduzieren, besteht darin, eine schnelle, knappe und eine zweite ausführlichere „Lernspur“ zu kreieren. Lehner (2012) nennt dies Track one – Track two. Hier geht es vor allem um die Organisation von Lernmaterial. Für eine Vorlesung „Reifentechnik“ –, welche Inhalte und welche Materialien müssen die Studierenden unbedingt kennen? Dies wäre die schnelle Track one Spur. Welche weitere Literatur und andere Materialien wären zudem wünschenswert? Dies wäre dann die ausführlichere und detailreichere Track two Spur.
Egal, welche Reduktionsstrategie eingesetzt wurde: Zum Schluss gilt es immer zu überprüfen, ob die Essenz des Themas noch erkennbar ist und der Informationsgehalt erhalten bleibt. Dazu ein Negativbeispiel aus Lehner (2006, S. 61): Die Reduktion zum Thema „Das Wichtigste über Käse“ als „Herstellung, Lagerung, Sorten“ ist nicht mehr informativ; sie dürfte der inhaltlichen Prüfung nicht standhalten.
Komplexität zu reduzieren erfordert zunächst einmal Mut, denn Lehrende wissen, wie vielschichtig ihr Fachbereich bzw. Thema ist, und je deutlicher einem dies vor Augen steht, desto schwerer fällt die Vereinfachung. Im Wesentlichen geht es darum, eine der Strategien Abstrahieren, Partikularisieren oder Idealisieren einzusetzen. Es gibt eine Vielzahl von Methoden, die dabei helfen. Hier werden ausschließlich praxiserprobte Methoden vorgestellt. Viele davon bauen auf Visualisierung auf. Visualisierung hat den großen Vorteil, dass sie zum Komprimieren und Fokussieren zwingt, also genau das, was bei der Komplexitätsreduktion erreichen werden soll.
Ein Advanced Organizer, auch Fachlandkarte genannt, (Reich 2007, Peterßen 2001, Ritter-Mamczek 2011, die eine Vielzahl von Beispielen anführt) ist ein möglichst bildhafter Überblick über das Thema. Hier sind zwei Beispiele hinterlegt. Abbildung (2a) ist ein Advanced Organizer zu einem Workshop mit dem Thema „Weniger ist mehr“, wie er am Anfang des Workshops den TeilnehmerInnen zur Verfügung gestellt wird – und dann in (2b) eine um Inhalte ergänzte Version desselben Advanced Organizer am Ende des Workshops.
Das zweite Beispiel (3) stammt aus dem Fachunterricht der englischen Sprachwissenschaft. Der Vorteil eines Advanced Organizers ist, dass er am Anfang Orientierung und Überblick bietet, nach und nach von den Lernenden (individuell oder zusammen in der Veranstaltung) ergänzt werden kann und am Ende schließlich eine Zusammenfassung des Erreichten abbildet.
Beim Mindmapping (Buzan 2003) geht es darum, Assoziationen strukturiert zu visualisieren und damit auch besser erinnern zu können. Für diejenigen, die diese Methode mögen, ist sie in vielen Situationen einsetzbar, sie ist allerdings nicht – wie überhaupt keine Methode – die allein seligmachende. Sie bietet wie der Advanced Organizer die Möglichkeit, nach und nach zu ergänzen, so dass die Mindmap im Laufe des Semesters mit dem behandelten Stoff mitwachsen kann. Allerdings ist sie von vornherein stärker hierarchisch strukturiert als der Advanced Organizer, was sich nicht bei allen Themen anbietet. Abbildung (4) illustriert das Warum-und-wie-Erstellen von Mindmaps.
Bei einigen Themen könnte es sich anbieten, die Komplexität in Form einer Tabelle zu vereinfachen. So könnte man den Studierenden durchaus auch das didaktische Raster (vgl. Tabelle 1) für die eigene Veranstaltung zeigen und daran erläutern, welche Unterthemen warum gewählt wurden. Dann haben die Studierenden deutlich vor Augen, dass sie ausschließlich mit einer Stoffauswahl konfrontiert werden. Auch was genau ausgewählt wurde und was nicht bearbeitet wird, aber ebenso zum Thema gehört, wird den Studierenden somit verdeutlicht.
Zwei weitere, nicht visuell organisierte Methoden sind LOGO! und am Beispiel lernen. Die Methode LOGO! (vgl. Kruse 1995) ist nach der Kindernachrichtensendung im Kinderkanal benannt. Die Methode basiert darauf, dass man versucht, sein Thema für eine Kindernachrichtensendung aufzubereiten. Das bedeutet, man muss sich kurz fassen und das Wichtigste in einfachen Worten erläutern, dabei gehen quantitative und qualitative Reduktion Hand in Hand.
Wie erklärt man 8- bis 12-jähringen Kindern in drei Minuten, worum es in „Funktionseigenschaften kondensierter Materie“ oder in „Geoinformationssysteme und Vermessungskunde für Umwelt- und Wirtschaftsingenieure“ geht? Hier muss man vereinfachen und gleichzeitig auf den Punkt kommen. Richtig gut wird die Erklärung, wenn man es auch schafft zu sagen, warum das jeweilige Thema relevant ist. Dies alles sind Informationen, die Studierenden – genau wie Kindern – den Einstieg in ein Thema ebnen. Wenn die Basis gelegt ist, darf und muss es komplexer und detailreicher werden, doch dann können Komplexität und Details an mentale Strukturen andocken – und die Studierenden können sie besser verarbeiten und erinnern.
Am Beispiel lernen bedeutet, dass ein spezifischer Inhalt beispielhaft für größere Zusammenhänge steht. So könnte man am Beispiel von Otto Dix „Der Streichholzhändler“ erarbeiten, inwiefern dieses Bild typisch ist für Expressionismus und Dadaismus. Oder man könnte an Otfried Preußlers Das kleine Nachtgespenst deutlich machen, welche sprachlichen Stolpersteine und damit auch Lernchancen für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache in Kinderliteratur stecken.
Auch hier gilt wieder: Am Schluss unbedingt überprüfen, ob die Essenz des Themas noch erkennbar und der Informationsgehalt im Kern erhalten geblieben ist.
Grüner, Gustav. (1984). Die didaktische Reduktion als Kernstück der Didaktik. In: Kahlke, Jochen & Kath, Fritz M. (Hrsg.) Didaktische Reduktion und methodische Transformation. Alsbach: Leuchtturmverlag. 63-79.
Stary, Joachim. (2012). Das didaktische Kernproblem: Verfahren und Kritierien der didaktischen Reduktion. Neues Handbuch Hochschullehre (NHHL) 1, 12, 1-22. http://userpage.fu-berlin.de/~stary/NHHSL%20DR.pdf (wird in neuem Tab geöffnet), 22.11.2015
Döring, Klaus W. (1992.) Stoffülle und Stoffreduktion als didaktisches Kernproblem der Weiterbildung. Perspektiven, 2. 6-15.
Lehner, Martin & Ziep, Klaus-Dieter. (1993). Phantastische Lernwelt. Weinheim: Beltz Verlag.
Lehner, Martin. (2012). Didaktische Reduktion. Bern, Stuttgart, Wien: utb Haupt Verlag.
Blankertz, Herwig. (1973). Curriculumsforschung. Essen: Verlag Neue Deutsche Schule.
Sander, Wolfgang. (1988). Strukturgitter und Matrices in der Curriculumkonstruktion. Wolfgang Mickel & Dietrich Zitzlaff. (Hrsg.) Handbuch zur politischen Bildung. Bonn: Leske und Buderich. 132-136.
Reich, Kersten. (2007). Methodenpool. In: url: http://methodenpool.uni-koeln.de, Stand 15.12.2015.
Peterßen, Wilhelm H. (2001). Kleines Methoden-Lexikon (2 ed.). München, Düsseldorf, Stuttgart: Oldenburg.
Ritter-Mamczek, Bettina. (2011). Stoff reduzieren: Methoden für die Lehrpraxis (Vol. 1). Opladen & Farmington Hill: Verlag Barbara Budrich.
Buzan, Tony & Barry. (2003). The Mind Map® Book. London: BBC Worldwide Ltd.
Kruse, Otto. (1995). Keine Angst vor dem leeren Blatt: Ohne Schreibblockaden durchs Studium (4 ed.). Frankfurt, New York: Campus Verlag.