Verantwortung versus Freiheit der Studierenden

23.03.2023

Maßnahmen, die darauf abzielen, Studierende durch didaktische Interventionen zum Veranstaltungsbesuch zu bringen , sind ganz grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Die Hauptkritikpunkte liegen darin, dass die Selbstbestimmung und Autonomie der (erwachsenen) Studierenden eingeschränkt werden und dass eine Benotung auf der Basis inhaltlicher Leistungskriterien und nicht der Anwesenheit erfolgen sollte (Moores, Birdi & Higson, 2019). Auch Lehrende wollen nicht unbedingt Studierende in ihren Veranstaltungen haben, die nur ihre Zeit absitzen. Viele wünschen sich vor allem eine stabile Gruppe mit einer vorhersehbaren Teilnehmendenzahl, damit didaktische Maßnahmen geplant werden können. Nur selten verfolgen sie die Absicht, Studierende zur Anwesenheit zu „zwingen“, die nicht aus freien Stücken teilnehmen würden (Universität Bielefeld, 2018). Wie also sollen Lehrende mit diesem Spannungsfeld umgehen?

Es stellt sich die Frage, was eine durch externe Motivationsanreize erzeugte Anwesenheit in den Teilnehmenden einer Lehrveranstaltung auslöst (vgl. auch Webler, 2017). Ein häufiges Argument von Studierenden besteht darin, dass die Option auf Abwesenheit als Teil der Studierfreiheit angesehen werden kann (Schulmeister, 2015). Empirische Untersuchungen zeigen, dass manche didaktischen Interventionen unerwünschte Nebeneffekte auslösen können. Beispielsweise erscheinen an Terminen, an denen die Anwesenheit nicht obligatorisch ist, deutlich weniger Studierende. Verpflichtungen zur Anwesenheit wirken sich für verschiedene Subgruppen von Studierenden unterschiedlich aus, z. B. in Hinblick auf Motivation oder Leistung. Nicht alle Studierendengruppen reagieren in gewünschter Weise mit dem Veranstaltungsbesuch auf die Einführung von Bonussystemen und/oder Kontrollen (Schulmeister, 2020). Außerdem wird die Performanz durch die Anwesenheit vermutlich nicht in jedem Fall erhöht (Moores, Birdi & Higson, 2019) und es existieren vielfältige (berechtigte) Hürden bei der Umsetzung einer Anwesenheitspflicht oder die Anwesenheit begünstigenden Prüfungsformen in Prüfungsordnungen.

Von der anderen Seite betrachtet kann das Studium jedoch als soziale Situation und Sozialisationsprozess betrachtet werden. Beides kann nicht vollzogen werden, wenn nicht daran teilgenommen wird (Webler, 2017). Leistungsnachweise können nur ausgestellt werden, wenn (sichtbar) Leistung erbracht wurden. Ein häufiges Gegenargument von Studierenden ist die Kompensationsmöglichkeit über das Selbststudium (die sog. „Substitutionshypothese“, Schulmeister, 2015, S. 28). Jedoch zeigen empirische Daten (zumindest aus der „Vor-Corona-Zeit), dass Studierende, die von Lehrveranstaltungen fernbleiben, entsprechende Möglichkeiten (z. B. Lernmaterialien, Skripte, Aufzeichnungen) nicht oder nur selten nutzen (Schulmeister, 2015, 2020). Zudem existieren einige empirische Hinweise dahingehend, dass insbesondere schwache Studierende von einer Anwesenheitspflicht einerseits in Hinblick auf die Häufigkeit des Veranstaltungsbesuchs und andererseits hinsichtlich ihrer Leistungen profitieren können (Credé et al., 2010; Schulmeister, 2020).

Außerdem sollte überlegt werden, ob die Hochschulen nicht auch eine gewisse moralische Verantwortung haben und sich – in welcher Form auch immer – besser um ihre Studierenden kümmern sollten (Schulmeister, 2015).

Die Frage, welche Umgangsformen und Interventionen für die Zielgruppe junger Erwachsener angemessen sind, die sich aus freien Stücken für ein Studienprogramm entschieden haben, ist folglich nicht leicht zu beantworten. Dabei kann es auch eine Rolle spielen, ob Studierende gerade erst die Schule verlassen haben oder schon in höheren Semestern sind und mehr Erfahrung mit Studierstrategien haben. Für die einzelnen Lehrenden erscheint es daher besonders wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung zu entwickeln, damit die daraus resultierenden impliziten Erwartungen von vorneherein klar an die Studierenden kommuniziert werden können.

Moores, E., Birdi, G. K. & Higson, H.E. (2019). Determinants of university students’ attendance. Educational Research, 61(4), 1-17.

Schulmeister, R. (2015). Abwesenheit von Lehrveranstaltungen. Ein nur scheinbar triviales Problem. Zugriff am 18.06.2022. Verfügbar unter: https://www.campus-innovation.de/fileadmin/dokumente/Schulmeister_Anwesenheit__Abwesenheit__2_.pdf (wird in neuem Tab geöffnet)

Schulmeister, R. (2020). Chancen und Grenzen einer Anwesenheitspflicht in Lehrveranstaltungen. Ein Studienreview zu Anwesenheit & Lernerfolg. In D. Großmann, C. Engel, J. Junkermann & T. Wolbring (Hrsg.), Studentischer Workload. Definition, Messung und Einflüsse (S. 253–270). Springer.Schulmeister, R. & Metzger, C. (2018). Das Studierverhalten im Bachelor. Zeitbudget-Analysen der Workload in 29 Bachelor-Stichproben. 2009-2018. Verfügbar unter http://rolf.schulmeister.com/pdfs/Workload%20und%20Studierverhalten.pdf (wird in neuem Tab geöffnet) [18.02.2023]

Universität Bielefeld (2018). Teilnahme an Lehrveranstaltungen. Problemaufriss und Vorschläge. Zugriff am 12.01.2023. Verfügbar unter https://www.uni-bielefeld.de/uni/einrichtungen-organisation/rektorat/lehre/Teilnahme_an_Lehrveranstaltungen_2018.pdf (wird in neuem Tab geöffnet)

Webler, W.-D. (2017). Wie wär's mit faszinierendem, fesselndem Studium anstelle des Rufes nach der Wiedereinführung der Anwesenheitspflicht? Das Hochschulwesen, 65(4+5), 117–132.