Der diagnostische Prozess
21.01.24
Der diagnostische Prozess im Rahmen der Lernstanderhebung
Wenn Hochschullehrende in Prüfungen die Rolle von Bewertenden einnehmen, ist es wichtig, dass sie ihr Handeln an Qualitätsstandards ausrichten, um zu einer transparenten und fairen Bewertung zu gelangen. Um auf potenzielle Fehlerquellen im diagnostischen Prozess aufmerksam zu werden und diesen vorzubeugen, hilft die theoretische Unterscheidung verschiedener Arbeitsschritte im Rahmen der Leistungsüberprüfung, die in Abbildung 1 dargestellt sind: Lernstanderhebung, Leistungsbeurteilung und Leistungsbewertung (Langfeldt & Tent, 1999, Kap. 3). Während Fehler bei der Lernstanderhebung insbesondere durch die Beachtung der wissenschaftlichen minimiert werden können, ist es möglich, dass sich bei der Leistungsbeurteilung und -bewertung weitere Wahrnehmungs- und Beurteilungsfehler einschleichen. Als Grundlage für deren Verständnis ist Wissen über den Ablauf der Personenwahrnehmung erforderlich. Gütekriterien
Personenwahrnehmung und ihre Rolle im diagnostischen Prozess
Grundsätzlich gilt, dass eine Information, die als Reiz über unsere Sinnesorgane aufgenommen wird, nicht weiterverarbeitet und abgespeichert werden kann, wenn wir sie gar nicht erst wahrnehmen. In der Konsequenz müssen wir denjenigen Reizen, die wir für relevant halten, möglichst schnell Beachtung schenken und sie mit Aufmerksamkeit belegen (Hagendorf, Krummenacher, Müller & Schubert, 2011). Dabei bewirken kapazitive Grenzen in unserem aufmerksamkeitsverarbeitenden System schon sehr früh im Prozess der Informationsverarbeitung eine Einschränkung auf Relevantes. Daraus folgt, dass unsere Wahrnehmung immer selektiv ist und sie unsere Umwelt niemals objektiv abbildet. Weitere subjektive Aspekte kommen dadurch hinzu, dass unsere Erfahrungen, unser Wissen und unsere Wünsche unsere Wahrnehmung beeinflussen.
Zur Veranschaulichung betrachten wir das Beispiel einer Dozentin, die zu Semesterbeginn das erste Mal den Seminarraum betritt und etwa fünfunddreißig neuen Studierenden begegnet. Während sie ihren Blick durch den Raum schweifen lässt, um sich ein Bild von der Lerngruppe zu machen, wird ihr Wahrnehmungsprozess von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst, die in Klebers Abbildung des Wahrnehmungsvorgangs (Kleber, 1992, S.111) dargestellt sind. Sie lassen sich auf der Seite der Lehrenden als Beobachterin und auf der Seite der einzelnen Studierenden als Beobachtungsgegenstände unterteilen. Auf Seiten der Dozentin können mehrere Einflussfaktoren greifen, die zur Ausbildung von Erwartungen führen und den Wahrnehmungsvorgang vorstrukturieren.
- Expliziter theoretischer Hintergrund: Hiermit ist all das Wissen gemeint, das die Dozentin zur Ausübung ihres Berufs befähigt. Sie hat ein Studium absolviert, promoviert und kann auf mehrere Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Dadurch bringt sie fachliches Wissen mit. Auch hat sie das Zertifikat Hochschullehre der TU Darmstadt erworben und weiß, wie sie Einstiegssituationen in Lehrveranstaltungen zielführend gestalten kann.
- Implizite Persönlichkeitskonzepte: Neben ihrem expliziten Wissen besitzt die Dozentin auch implizite Annahmen darüber, wie Lehren und Lernen funktionieren. Diese Annahmen haben sich im Laufe der Jahre über Erfahrungen herausgebildet und sind unbewusst, aber potenziell bewusstseinsfähig. Sie werden als implizite Persönlichkeitstheorien bezeichnet (Jürgens & Sacher, 2008; Kleber, 1992). Implizite Persönlichkeitstheorien umfassen die naiv-psychologische Eigenschafts- sowie die naiv-psychologische Prozesstheorie (Jürgens & Sacher, 2008). Die naiv-psychologische Eigenschaftstheorie besteht aus Annahmen darüber, wie verschiedene Personeneigenschaften miteinander verknüpft sind. Beispielsweise geht die Dozentin davon aus, dass jemand, der pünktlich und ordentlich ist, auch hohe Leistungen erbringt. Dies bewirkt, dass sie einem Studenten, der regelmäßig an seiner Lehrveranstaltung teilnimmt, alle vorgegebenen Fristen einhält und Hausarbeiten mit schönem Layout abgibt, höhere Leistungserwartungen entgegenbringt als einem unpünktlichen Studenten, der ihr verspätet eine lose Blattsammlung überreicht. Die naiv-psychologische Prozesstheorie hingegen beschreibt Annahmen über das Zustandekommen von Verhaltensweisen. Beispielsweise könnte die Dozentin der Annahme folgen, dass eine strenge Seminarleitung mit hohen Leistungserwartungen und klaren Regeln aufmerksame und fleißige Studierende hervorbringe. Implizite Persönlichkeitstheorien können sich so stark verfestigen, dass sich Vorurteile und Stereotype ausbilden, die man bestimmten Personen(gruppen) entgegenbringt. Eventuell hat die Dozentin aufgrund negativer persönlicher Erfahrungen das Vorurteil, dass Studierende des Lehramts weniger begabt sind als Hauptfachstudierende.
- Bedürfnisse: Auch die aktuelle Bedürfnislage der Dozentin beeinflusst ihre Erwartungen. Möglicherweise empfindet sie den ersten Seminartermin als lästig, da er sie davon abhält, an einem wichtigen Paper zu arbeiten. Bereits am nächsten Seminartermin kann dies anders aussehen, wenn das Paper eingereicht ist und sie sich ganz auf die Lehre konzentrieren kann. Selbstverständlich gibt es auch Grundbedürfnisse, die zeitlich stabil sind. Zum Beispiel ist es der Dozentin zu jedem Zeitpunkt wichtig, von den Studierenden respektiert zu werden.
- Umwelt/gesellschaftliche Einflüsse: Bei der Gestaltung der Einführungssitzung und ihren damit verbundenen Erwartungen an die Studierenden lässt sich die Dozentin auch von Einflüssen aus ihrer Umwelt, zum Beispiel der Lehrkultur an ihrem Institut, und gesellschaftlichen Einflüssen, zum Beispiel dem Lehrkonzept ihrer Hochschule, das sich durch den Bologna-Prozess stark gewandelt hat, leiten.
Des Weiteren wird der Wahrnehmungsprozess auch durch den Beobachtungsgegenstand beeinflusst:
- Gegenstand: Die einzelnen Studierenden bieten der Dozentin ganz unterschiedliche Erscheinungsbilder, zum Beispiel in Bezug auf ihre Kleidung, Körperhaltung, Mimik und Gestik.
- Kontext: Einzelne Studierende werden in unterschiedlichen Kontexten ganz verschieden wahrgenommen. Eine überengagierte Studentin fällt beispielsweise in einer leistungsstarken Gruppe weniger auf als in einer leistungsschwachen Gruppe.
- Information/Reiz: Häufig erhalten Lehrerende zusätzliche Informationen über einzelne Studierende oder die Lerngruppe. Zum Beispiel könnte die Dozentin erfahren, dass in ihrem Seminar die Studentin sitzt, die bei ihrem Kollegen im letzten Semester durch die mündliche Prüfung gefallen ist. Oder sie hört von einer anderen Kollegin, dass die Seminare in diesem Semester überbelegt und die Studierenden deswegen besonders unzufrieden mit der Zuteilung der Seminarplätze sind. Auch dies wird dazu führen, dass sie die Gruppe mit anderen Augen sieht.
Das Beispiel verdeutlicht, dass Lehrende eine Lerngruppe derselben Einstiegsveranstaltung unterschiedlich wahrnehmen können und bereits im Rahmen ihres ersten Eindrucks mehr oder weniger starke Hypothesen darüber ausbilden, mit wem sie es zu tun haben (Kleber, 1992). Diese Hypothesen beeinflussen wiederum ihre nachfolgende Wahrnehmung, ihr unterrichtliches Handeln und auch ihr Verhalten in Prüfungssituationen. Selbstverständlich entgeht dies den Studierenden nicht, die ihrerseits auf das Verhalten der Seminarleitung reagieren.
Im Alltag werden Wahrnehmung und Urteilsbildung nicht bewusst voneinander getrennt, sondern erfolgen oftmals automatisiert und weitestgehend unreflektiert in einem Schritt. Dass Informationen nur selektiv aufgenommen und bewertet werden, wird dabei nicht weiter beachtet. Wenn Sie beispielsweise des Nachts durch eine menschenleere Straße nach Hause gehen und Ihnen plötzlich eine dunkel gekleidete Gestalt entgegenkommt, könnten Sie diese als bedrohlich einschätzen und zur Vorsicht auf die andere Straßenseite wechseln. In Situationen wie dieser ist es besonders wichtig, dass Sie schnell handeln, ohne die Sachlage zu lange zu analysieren. Bei der Gefahreneinschätzung werden Sie sich dabei nicht nur von den Informationen leiten lassen, die Sie aktuell über Ihre Sinne aus der Umwelt aufnehmen (z. B. Größe, Statur und Alter der Person), sondern auch von Ihren persönlichen Erfahrungen in vergleichbaren Situationen (Wurden Sie schon einmal überfallen?), ihrem Vorwissen (Ist diese Wohngegend sicher?) und Ihren Persönlichkeitseigenschaften (Sind Sie eine ängstliche Person?). Da all diese Bewertungsprozesse sehr routiniert und weitestgehend unbewusst ablaufen, bezeichnet man sie als implizite oder stereotypgesteuerte Beurteilung, in deren Rahmen wir uns auch von Vorurteilen leiten lassen, die wir im Laufe der Jahre basierend auf unserer Erfahrung herausgebildet haben.
Falls Sie sich dazu entscheiden, die Straßenseite vorsorglich zu wechseln, werden Sie im Nachhinein nur schwer überprüfen können, ob Sie die Situation richtig eingeschätzt haben oder ob Sie der anderen Person zu Unrecht etwas unterstellt haben. Allerdings entsteht dieser in dem vorliegenden Beispiel durch Ihre Einschätzung auch kein Nachteil. Im Alltag von Hochschullehrenden muss eine solche unreflektierte selektive Wahrnehmung und eine implizite Beurteilung jedoch vermieden werden. Dies ist insbesondere dann erforderlich, wenn Studierende bewertet werden sollen, z. B. im Rahmen eines (benoteten) Vortrags oder in einer mündlichen Prüfung. In diesen Situationen muss die des Wahrnehmungsurteils angestrebt werden, um eine möglichst korrekte und faire Einschätzung zu gewährleisten. Wenn die Personenwahrnehmung und die Schritte bis zur Urteilsfindung bewusst reflektiert werden, spricht man von einer evaluativen Beurteilung, in deren Rahmen auf die Vermeidung von Wahrnehmungs- und Beurteilungsfehlern geachtet werden muss. Objektivität